Der Alltag in Farge-Rekum in früheren Zeiten

Hans Lübsen (Heimatblatt Nr. 56, Juni 1972)

Um die Zeit vor dem ersten Weltkrieg bildeten die beiden Ortsteile Farge und Rekum zwei getrennte Gemeinden, Gemeindevorsteher in Farge war der Landwirt Diedrich Schierholz, wohingegen in Rekum der damalige Ziegeleibesitzer und spätere Weingroßhändler W.F. Busse das Amt des Gemeindevorstehers bekleidete. Sein Amtsnachfolger war sein früherer, mit den Verwaltungsgeschäften der Gemeinde Rekum bestens vertraute Angestellte Hinrich Föge. In Farge übernahm Richard Taylor im Jahre 1916 die Geschäfte des Gemeindevorstehers, ihm wurde 1923 die Gesamtverwaltung der zum damaligen Kreis Blumenthal gehörenden Gemeinden Farge und Rekum übertragen.
Ein großer Teil der Einwohnerschaft waren Bauern und Gewerbetreibende, doch überwog die Zahl der in den Industriebetrieben in Farge, Rönnebeck, Blumenthal und Vegesack Tätigen. In Farge waren es die Steingutfabrik Witteborg und die Hanseatische Stuhlrohrfabrik AG Rümcker und Ude, die vielen Arbeit und Brot gaben, in Blumenthal die Bremer Woll-Kämmerei und in Vegesack die Schiffswerft und Maschinenfabrik Bremer Vulkan. Darüber hinaus gab es in Rönnebeck noch ein paar kleinere Boots- und Schiffswerften sowie die Gelbgießerei und Armaturenfabrik von Schwarting, die später von der Firma H. Dewers übernommen wurde.

In der Steingut- und in der Wollindustrie arbeiteten damals auch schon Frauen. Als Beförderungsmittel diente den Berufstätigen von Farge und Rekum fast ausschließlich das Fahrrad (im 1. Weltkrieg mit Spiralreifen). Der weitaus größte Teil der Beschäftigten legte den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu Fuß zurück. Nicht selten hatten sie einen Weg von einer Stunde und mehr.

Gearbeitet wurde täglich – einschließlich sonnabends – rund um die Uhr, so daß die Betriebsangehörigen oft 14 bis 15 Stunden ihrer Wohnung fern waren. Um die Wegzeit zu verkürzen, benutzten sie vielfach nicht die durch den Ort führende Landstraße, sondern wählten Richtwege durch Feld und Wiesen, so u.a. den Neuenkirchener Weg, der von Neuenkirchen-Vorbruch über die Rekumer und Farger Geest (durch den späteren Wifo-Wald) nach Blumenthal verlief. Der heutige Pötjerweg führt seinen Namen zurück auf die „Pötjer“ (Töpfer)-Steingutarbeiter, die diesen Weg benutzten, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen.

Einige Berufstätige waren damals wie heute in der Schifffahrt tätig und zwar hauptsächlich in der Schleppschifffahrt auf Weser und Elbe, Nord- und Ostsee. 1919 wurde hier der heute noch bestehende Schifferverein von Rekum und Umgebung gegründet.

Bis in den ersten Weltkrieg arbeiteten einige Männer aus unserem Ortsteil auch als Zimmerleute auf den Bremerhavener Schiffswerften von Rickmers, Tecklenborg und in dem Dockbetrieb des Norddeutschen Lloyd. Volle sieben Tage waren sie von Haus. Spät am Sonnabend kehrten sie heim zu ihren Familien, die sie dann am Sonntagnachmittag schon wieder verlassen mußten, um am Montagmorgen pünktlich am Arbeitsplatz zu sein. Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, d.h. vor dem Bau der Farge-Vegesacker Eisenbahn, mußten diese Männer den Weg von und nach Vegesack jeweils zu Fuß zurücklegen. Proviant nahmen sie meist von Muttern mit, weil’s billiger war.

Doch nun zu dem alltäglichen Leben der Menschen im Ort selbst. Viele Berufstätige betrieben nebenbei noch ein bißchen Landwirtschaft. Es gab wohl kaum einen Einwohner, der nicht ein Stück Land bearbeitete, auf dem er Kartoffeln, Getreide (hauptsächlich Roggen) und Gemüse für sich und seine Familie erzeugte, meistens hielt man sich eine Kuh oder eine Ziege, und fast jeder hatte ein Schwein und Hühner im Stall. In den Jahren 1910 bis 1930 war die Schweinemast in Farge-Rekum ein bedeutender Nebenerwerb. Für viele war es damals sogar der Haupterwerb. Besonders zahlreich waren die Mästereien im Ortsteil Rekum. Hier gab es solche mit Umsätzen von mehreren Hundert, ja bis 1 000 Schweinen im Jahr. Wöchentlich wurden zwei oder mehr Waggons Schweine mit Durchschnittsgewichten von 2 bis 1 ½ Ztr. Am Farger Bahnhof nach Süddeutschland oder ins Rheinland verladen. Noch heute zeugen die riesigen Stallgebäude mit den schwarzen Pappdächern und den sich darauf befindlichen Luftschächten von jener Zeit.

Mochte die Schweinemast für viele ein einträgliches Geschäft sein, so war die Luft in Farge-Rekum doch stark geschwängert von dem Dunst, den die „Schweinefabriken“ (so konnte man sie wohl nennen) von sich gaben. Es mag etwas paradox erscheinen, wenn man in den zwanziger Jahren, als die Schweinemast noch in voller Blüte war, versuchte, Rekum zu einem Luftkurort zu machen. Jedenfalls waren damals, als die Weserdampfer in Rekum anlegten und ausgedehnte Wanderungen entlang dem Weserdeich und in die Heide bis zur Bertholdshöhe unternommen werden konnten, Bemühungen darum im Gange.

Die nebenerwerbliche Landwirtschaft brachte natürlich viel Arbeit mit sich. Vom Frühjahr bis zum späten Herbst gab es da zu tun, zu säen, pflanzen, hacken und ernten. Die sogenannten „lütjen Lüe“, die nicht ein eigenes Pferd und Ackergerät hatten, ließen die Feldarbeit (Pflügen, Eggen, usw.) gegen Entgelt von einem Bauern entrichten.

Wenn es so weit war, daß das Korn geerntet und gedroschen werden mußte, gab es eine hektische Zeit. Das gute Erntewetter mußte ausgenutzt werden, und jeder wollte sein Getreide zuerst ausgedroschen haben. Die Dreschmaschine wurde damals noch durch Pferde mittels eines Göpels angetrieben. Es geschah meistens bei sehr heißem Wetter und großer Staubentwicklung. Vereinzelt wurde das Korn auch noch mit dem Dreschflegel ausgedroschen. Auf dem abgeernteten Stoppelfeld wurden dann von Kindern oder auch von Erwachsenen die liegengebliebenen Ähren aufgesammelt. Man nannte das „Kluben“.

In einigen Familien wurde damals auch noch das eigene Schwarzbrot gebacken, besonders in den Jahren 1914/20. Sofern kein eigener Backofen vorhanden war, wurde der Teil von der Hausfrau vorbereitet und beim Bäcker gegen Lohn gebacken. Abends holten wir dann die frisch gebackenen Brote auf der Schiebkarre nach Haus, und nicht selten brachen wir uns unterwegs schon einen ordentlichen Brocken aus dem noch warmen Brot heraus, den wir mit großem Genuß verzehrten.

Die Kartoffelernte – dat Katuffelnutkriegen – war sehr interessant. Mit einem großen eisernen Haken (Upslahaken) wurden die Stauden reihenweise aus der Erde gezogen. Kniend wurden sie dann von den Frauen in Körbe gesammelt, in Säcke geschüttet und mittels Schiebkarre oder Ackerwagen von den Männern ins Haus gefahren. Das Auflesen war für die Frauen besonders unterhaltsam, denn bei dieser Tätigkeit wurde über alle Ereignisse und Neuigkeiten im Dorf berichtet. Das trockene Kartoffellaub wurde aufgehäufelt und verbrannt. In dem Feuer rösteten wir Kinder die auf dem Feld liegengelassenen Kartoffeln, die wir dann als eine Delikatesse verzehrten.

Nun war es aber nicht allein die Ernährung für Mensch und Tier, um die man sich sorgen mußte, Es galt auch, die nötige Feuerung für Herd und Ofen heranzuschaffen. Neben der Kohle, die schon immer verhältnismäßig teuer war, brannte man Holz und nicht zuletzt Torf. Der in Bremen und Umgebung verfeuerte Torf – er wurde auch zum Heizen der Backöfen verwendet – kam vorwiegend aus dem Teufelsmoor und zwar in langen schwarzen Holzkähnen, die zwei volle Ackerwagen (mit erhöhten Seitenwänden) enthielten. In den Kähnen war vorn eine kleine Kajüte mit Herd und Schlafplatz, in der sich der Torfbauer – der Janvonmoor – auf der langen Reise bzw. während der Liegezeit aufhalten konnte. Urgemütlich fanden wir Kinder es darin. Am Farger Löschplatz bei der Witteborg (das Gelände gehört jetzt dem Kraftwerk) wurde der Torf ausgeladen und auf Ackerwagen verfrachtet.

Zu Hause wurde er mittels einer am Haken an der Hauswand aufgehängten Rolle durch eine Luke auf den Boden gezogen oder auf der „Hille“ säuberlich aufgestapelt. Die Luken, durch die der Torf wie auch das Korn, Stroh und Heu ins Haus kamen, sehen wir heute noch in vielen Häusern in Farge-Rekum, meistens an der Giebelseite des Hauses. Der Torf wurde nicht nur zum Brennen, sondern auch – wie früher in den schornsteinlosen Häusern – zum Räuchern von Schinken, Speck und Wurst verwendet. Besonders beliebt war der durchgebrannte, glimmende Torf auch in der „Feuerkike“, die als Wärmespender für Füße und Beine gute Dienste leistete.

Die Abende waren damals im allgemeinen recht geruhsam. Die Frauen hatten vielfach zu stopfen und zu flicken, wohingegen die Männer die Zeit mit Lesen und Basteln verbrachten oder mal in die Stammkneipe gingen. Es wurde aber im Familienkreis auch aus Zeitungen und Büchern vorgelesen, ein Lied gesunden und musiziert, oder man vertrieb sich die Zeit mit netten Unterhaltungsspielen. Hörfunk und Fernsehen gab es damals ja noch nicht, und somit wurde das gemeinsame Gespräch weitaus mehr gepflegt als heute.

Die Kinder meines Jahrgangs verlebten einen Teil ihrer Schuljahre im ersten Weltkrieg. Die Ernährung war schlecht. Nicht selten holten die Schüler und Schülerinnen statt des gewohnten Frühstücksbrotes eine Scheibe Steckrübe oder eine Möhre aus ihren vielfach aus grobem Leinen gefertigten Büchertaschen. Textilien und Schuhe waren knapp, denn die paar Punkte auf der Kleiderkarte reichten nicht hin und nicht her. Im Sommer gingen wir barfuß zur Schule und im Winter in Holzschuhen. Hosen und Kleider für die Kinder wurden in vielen Fällen aus gebrauchten Kleidungsstücken hergestellt und auf Zuwachs gearbeitet, denn sie mußten lange Zeit getragen werden.

Dennoch glaube ich sagen zu dürfen, daß es für uns Kinder eine schöne Zeit war. Manchmal gingen wir mit der Klasse zum Weserdeich oder auf Feld und Wiese, um dort Laub von den Pappelbäumen und Brennesseln zu sammeln. Diese Sachen wurden dann auf dem Schulboden getrocknet und sollten als Futter für die Pferde der Soldaten bzw. zur Herstellung von Textilien verwendet werden. Gesammelt wurde praktisch alles, was die Natur hervorbrachte und was zur Ernährung, Bekleidung und Unterkunft für Menschen und Tier dienen mochte. Das waren damals unsere „Wandertage“. Man nahm dafür meisten eine Naturkunde-, Geschichts-, Geographie- oder Turnstunde.

Die Weser war für uns schon immer ein großer Anziehungspunkt. Das Baden dort war eine helle Freude, und gar zu gern aalten wir uns in dem weißen warmen Wesersand an dem mehrere Kilometer langen Strand, der nach Osten hin von Weidenbüschen und hohen Pappelbäumen umsäumt war. Unter dem Rekumer Berg, etwa dort, wo sich heute die Tankeranlegestelle befindet, lagen noch die Reste von alten Helgen der früheren Schiffswerften von Seebeck und Arfmann. Die dicken, schwarzen Holzbalken waren ein beliebter Tummelplatz für alt und jung.

Es waren aber nicht nur der Weserstand oder die offene Feldmark mit ihren ausgedehnten Heideflächen, wo man sich frei und ungezwungen bewegen konnte. Auch die öffentlichen Straßen und Wege boten dazu genügend Gelegenheit. Der allgemeine Straßenverkehr war nämlich so gering, daß wir Kinder fast ungehindert unsere Brummkreisel spinnen (mit Peitschenantrieb) und unsere Reifen (ausgediente Fahrradreifen) laufen lassen konnten. Oder wir spielten „Kutje“ und „Duksteen“. Je dicker der Dreck, desto schöner war’s. Besonders interessant war das Marmelspiel. Die dabei gebrauchten Ausdrücke wie „Mitrum“, „Ohmrum“, „Schiet“, „Liek“ usw. werden heute noch manchem vertraut sein.